„Weit liegt die Landschaft. Berge, Täler und Seen. Die Bäume rauschen, die Quellen springen, die Gräser neigen sich im Wind. Quer durch eine Waldlichtung, durch den Wald, über die Chaussee läuft ein Stacheldraht: die Grenze. Hüben und drüben stehen Männer, aber die drüben haben blaue Uniformen mit gelben Knöpfen und die hüben rote Uniformen mit schwarzen Knöpfen. Sie stehen mit ihren Gewehren da, manche rauchen, alle machen ein ernstes Gesicht.“
Ja, das ist also nun die Grenze. Hier stoßen die Reiche zusammen und jedes Reich paßt sehr auf, daß die Bewohner des anderen nicht die Grenze überschreiten. Hier diesen Halm darfst du knicken, diesen Bach überspringen, diesen Weg noch überqueren. Aber dann - halt! Nicht weiter! Da ist die Grenze. Einen Schritt weiter und du bist in einer anderen Welt. Einen Schritt weiter und du wirst vielleicht für etwas bestraft, was du hier noch ungestraft tun könntest. Einen Schritt weiter - und du darfst den Papst lästern. Einen Schritt weiter und aus dir ist ein ziemlich vogelfreies Individuum, ein Fremder geworden.
Pfui Fremder -! Du bist das elendeste Wesen unter der Sonne Europas. Fremder -! Die alten Griechen nannten die Fremden Barbaren aber sie übten Gastfreundschaft an ihnen. Du aber wirst von Ort zu Ort gejagt, du Fremder unserer Zeit, du bekommst hier keine Einreiseerlaubnis und dort keine Wohnungsgenehmigung, und dort darfst du keinen Speck essen, und von da keinen mitnehmen.“
1920 veröffentlichte Paul Panther alias Kurt Tucholsky sein frühes Feuilleton „Die Grenze“. Selbst wenn Europa heute nicht mehr der „Lappen von bunten Flicken“ ist, als das es der Autor ein paar Zeilen weiter bezeichnete der Text als solcher ist unvermindert und auch in globalisierten Zeiten von unbestreitbarer Aktualität. Grenzen existieren nach wie vor allenthalben, Grenzen topografischer oder politischer, vor allem aber auch solche geistiger Art. Grenzen, mit denen sich Menschen in unterschiedlichsten Bereichen emsig gegeneinander abschotten, ihr Territorium markieren, Fremden und Fremdem gleichermaßen den Zutritt verwehren. Grenzen, hinter denen man Schutz sucht, und sei es auch nur vor Verunsicherung, Mauern gegen jenes Fremde, das gerade, weil es fremd und unbekannt ist, Angst und Schrecken einjagt.
Eine Grenze aber muss nicht unbedingt nur Abschottung und Abgrenzung meinen, muss nicht ausschließlich für Trennung stehen. „An der Grenze kommt das Verschiedene und Unterschiedene in einem doppelten Sinn zusammen. Es trifft aufeinander, und es geht ineinander über. Insofern ist die Grenze nicht nur der Ort der Unterscheidung und der Abgrenzung, sondern auch der Ort des Übergangs, der Annäherung und der Mischung. Sie ist Anfang und Ende zugleich, und daraus erwächst ihre besondere Dialektik: Keine Grenze ohne Grenzübertritt. Ohne ihre eigene Überwindung, ihre eigene Aufhebung ist sie kaum zu denken.“ So Dr. Dieter Lamping, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Mainz, in seinem 2001 erschienenen Buch „Über Grenzen. Eine literarische Topographie“, in dem es vor allem um die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts geht, in der, kaum zufällig in einem politisch turbulenten Jahrhundert, das Thema der „Grenze“ eine besondere Rolle spielt, von des jüdisch-galizischen Schriftstellers Joseph Roth Artikelserie von 1919, „Reise durchs Heanzenland“, über Erich Kästners „Der kleine Grenzverkehr“ bis zu Christa Wolffs DDR-Roman „Der geteilte Himmel“ und Peter Schneiders Erzählung „Der Mauerspringer“ von 1982.
Der rheinland-pfälzische Kultursommer entlehnte sich für 2010 sein Motto quasi bei Lamping. „Über Grenzen“ lautete es, doppelt bedeutungsträchtig und bemerkenswert in einer Region, die zwei Jahrhunderte lang, seit den Zeiten Napoleons, immer wieder zwischen Deutschen und Franzosen heftig umkämpft war, kriegerisch und verbal. Einen der ersten polemischen Steine warf 1813 Ernst Moritz Arndt mit seiner Schrift „Der Rhein. Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze“, in der er das Rheinland als Herz und Kern des deutschen Volkes feiert. Die Gegenseite antwortete spätestens nach dem Krieg von 1870/71, in dem das Elsass und Lothringen von den Deutschen eingenommen worden waren, auch nicht zimperlicher, bis sich nach 1918, nach den Versailler Verträgen, das Blatt wieder wendete und 1925 mit patriotischem Gepränge die Tausendjahrfeiern zur Zugehörigkeit der Rheinlande zum deutschen Reich begangen wurden.
Dass gerade der als trennende und abschottende Grenze von Patrioten hüben und drüben so nachhaltig umstrittene Rhein ganz im Gegenteil eine Grenze sein könnte, die ganz natürlich und selbstverständlich überschritten werden kann und muss, demonstrierte zeitgleich der Elsässer Schriftsteller und Journalist René Schickele, der „zweisprachige Grenzvogel“, wie er sich selber nennt, durch den regen Grenzverkehr der Protagonisten, allen voran der Elsässer Claus von Breuschheim, in seiner Romantrilogie „Das Erbe am Rhein“. Und ganz ähnlich sieht dies 1931 der französische Historiker Julien Febvre in seinem Essay „Le Rhin. Problème d’histoire et d’économie“. In ihm setzt er sich energisch dafür ein, den Rhein nicht so sehr als Trennungslinie, sondern als Wasserstraße, als Kontaktzone und Verkehrsknotenpunkt zu sehen. Denn: „Die große Besonderheit des Rheins von den Anfängen der menschlichen Geschichte bis zur Entfaltung der modernen Zivilisation besteht in seiner Fähigkeit zu verbinden und anzunähern.“
Grenzen aber sind bei weitem nicht allein ein politisches und eher willkürliches Phänomen. Der Schweizer Soziologe und Philosoph Georg Simmel sieht in ihrer Existenz gar ein wesentliches Charakteristikum menschlicher Existenz schlechthin und erklärt in seiner Abhandlung über „Die Transzendenz des Lebens“: „Die Weltstellung des Menschen ist dadurch bestimmt, dass er sich innerhalb jeder Dimension seiner Beschaffenheiten und seines Verhaltens in jedem Augenblick zwischen zwei Grenzen befindet. Dies erscheint als die formale Struktur unseres Daseins… Gehalt und Wert des Lebens und jeder Stunde fühlen wir zwischen einem höheren und einem tieferen stehen, jeden Gedanken zwischen einem klügeren und einem törichteren, jeden Besitz zwischen einem ausgedehnteren und einem beschränkteren, jede Tat zwischen einem größeren Maß an Bedeutung, Zulänglichkeit, Sittlichkeit und einem geringeren.
Wir orientieren uns dauernd, wenn auch nicht mit abstrakten Begriffen, an einem Über- uns und einem Unter- uns, einem Rechts und Links, einem Mehr oder Minder, einem Fester oder Lockerer, einem Besser oder Schlechter.“
Mögen diese Grenzen auch, so Simmel, notwendig und nützlich sein als Orientierungshilfen, besteht doch die eigentliche Leistung des Menschen in ihrer Überwindung: „Denn die Grenze überhaupt ist zwar notwendig - jede einzelne bestimmte Grenze aber kann überschritten werden, jede Festgelegtheit verschoben, jede Schranke gesprengt; jeder solche Akt freilich findet oder schafft die neue Grenze.“
Mit anderen Worten: Leben existiert innerhalb von Grenzen, die aber nicht festgeschrieben, sondern, mit der lebenslangen Verschiebung der Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen, in ständigem Wandel begriffen sind. Deshalb gelangt Simmel schließlich zu der Annahme, dass sich unser Wesen am ehesten durch eine Paradoxie ausdrücken lasse: „…wir haben nach jeder Richtung hin eine Grenze, und wir haben nach keiner Richtung hin eine Grenze“. Dann nämlich, wenn wir die vorhandenen Grenzen zumindest geistig überschreiten, ist doch das Überschreiten der Grenze genauso ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen wie das nach Abgrenzung. Grenzen sind einerseits Schranken, andererseits aber Türen und Brücken.
Auch der anthropologische Ansatz führt also zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Beschäftigung mit politischen Grenzen. Das, was zunächst allein trennend zu sein scheint, erweist sich tatsächlich als eigentlich verbindendes Element. Grenzüberschreitung wird damit zu einem ganz natürlichen, selbstverständlichen Prozess. Dies gilt erst recht für ein Projekt, das „Kunst im Park“ überschrieben ist. Schon allein der Titel signalisiert das Zusammenbringen von zuvor scheinbar fein säuberlich Getrenntem, von Kunst und Natur. Ein Zusammenbringen, das nicht eine Knebelung der Natur durch die Kunst bedeutet, wie es in früheren Jahrhunderten, vor allem in der Gartengestaltung des Barocks, der Fall war, sondern im Gegenteil eine Annäherung an, ein Eingehen der Kunst auf die natürlichen Gegebenheiten.
Diese Grenzüberschreitung ist es, die zum wiederholten Mal KünstlerInnen eine Woche lang im Park der Burg Namedy, die ihrerseits schon seit Jahren mit ihrem ambitionierten Kulturprogramm Grenzüberschreitung in mehrfacher Hinsicht praktiziert und Begegnung provoziert, zusammenkommen ließ. Eine Woche, in der vor Ort, außerhalb der Grenzen des gewohnten Ateliers, in intensiver Auseinandersetzung mit der Natur in Gestalt des englisch angehauchten Parks, aber auch mit den anderen Beteiligten, installative Arbeiten entstanden, die am ehesten der „Art in Nature“ zuzurechnen sind. Einer die in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurzelnde „Land Art“ in kleinerem Maßstab variierende Kunstform, die vorhandene ökologische Räume respektiert, durch gezielte skulpturale Eingriffe aber deren neue Wahrnehmung ermöglicht und neue Zugänge zur Natur eröffnet. Da wird beispielsweise Vertrautes verfremdet und dadurch erst wieder bewusst erlebbar gemacht, aber auch der Blick gelenkt auf mögliche Folgen unüberlegten und maßlosen, Grenzen im negativen Sinn überschreitenden menschlichen Umgangs mit der Natur.
Dr. Liselotte Sauer-Kaulbach
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